Konzepte für eine Natur ohne Jagd

Ein Reh auf »Terra Nova«
Ein Reh auf »Terra Nova«

Konzepte für eine Natur ohne Jagd

Folgende spezifische Hilfs- und Rahmenprogramme schaffen die Voraussetzungen für ein möglichst natürliches und stabiles Gleichgewicht in unserer Restnatur:

Zunächst müssen der Natur solche Bedingungen geboten werden, die ein natürliches und stabiles Gleichgewicht langfristig ermöglichen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich unsere Wälder und die Restnatur durch die ständige Jagd und die kommerzielle Wald-Nutzung, aber auch wegen der angrenzenden agrartechnischen bzw. industriellen Bereiche, in einem völlig instabilen, meist biodivers verarmten Zustand befindet. Eine natürliche Waldverjüngung ist deshalb oft nicht möglich. Wirklich naturnahe, standorttypische und potentielle natürliche Vegetationen sind in Deutschland aber kaum noch zu finden (vgl. Pott, Richard, Farbatlas Waldlandschaften, Ulmerverlag. Stuttgart, 1993 S.8 ff) und sollten deshalb mit flankierenden Maßnahmen sinnvoll gefördert werden. Bei dieser sehr komprimierten Darstellung können zunächst nur die wichtigsten Aspekte dargelegt werden:

Waldrand-Programme
Für bejagte Wälder gilt: »Da überdies große Flächen unterwuchsarmer Nadelforste den Tieren nicht die nötige abwechslungsreiche Nahrung bieten, äsen sie um so stärker in den verbliebenen naturnahen Beständen.« (Wilmanns, Otti, Ökologische Pflanzensoziologie,. S.310) Diesen Zustand bezeichnet Prof. Carlo Consiglio (»Vom Widersinn der Jagd«) als »ökologische Falle«: Ein zunächst für Wildtiere attraktiver Zufluchtsort mit ausreichend Deckung bietet nicht mehr die Nahrungsmengen, die ein natürlicher Wald bzw. eine natürliche Landschaft bieten könnte und fördert damit gleichzeitig die Schäden an jungen und erreichbaren Pflanzen bzw. Pflanzenteilen. Dabei muss man wissen, dass der natürliche Lebensraum von Rehen nicht der Wald ist - sondern der Waldrand, die Wiesen und Felder.

Deshalb muss ein Hilfsprogramm am Waldsaum gestartet werden. Am künftig unbejagten Waldrand bleiben zunächst Teile der Acker- und Feldflächen unbewirtschaftet, d. h. es findet zum Teil ein Anbau, aber keine Ernte statt. Dies ist vor allem in der Übergangszeit von Bedeutung, da die Zusammensetzung der Wälder deutlich langsamer zu ändern ist als die Größe der Tierpopulationen. Dieser Schritt kann nicht als Zufütterung verstanden werden, da im folgenden Jahr diese Flächen vollständig stillgelegt werden und eine natürliche Sukzession eintreten kann. (Wenn dies subventioniert wird, sollte die Einwirkung von Herbiziden auf diese Flächen ausgeschlossen werden können.)
Deshalb sind einige Soforthilfen notwendig: Konsumenten erster Ordnung (Pflanzenfressern) wird eine natürliche Nahrungsaufnahme ermöglicht, damit eine Zufütterung unterbleiben kann. Ist dies aus strukturellen Gründen nicht möglich (z.B. angrenzender Weinanbau), wird für die Wildtiere ein adäquater »Ausweichraum« mit entsprechender Vegetation zur Verfügung gestellt.

Die Wildtiere lernen innerhalb eines kurzen Zeitraumes, dass der »neue« Waldrand und die offenen Wiesenflächen keine Gefahr mehr für sie bergen. Eine natürliche Waldverjüngung und eine Vergrößerung der Waldflächen wird sich nach einer gewissen Anlaufzeit einstellen können und ähnlich positive Auswirkungen haben wie im Schweizer Nationalpark, wo die Jagd seit fast 100 Jahren verboten ist. Hier kamen zwei Studien der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, die beide im Nationalpark Schweiz durchgeführt wurden, zu dem Ergebnis: Wildtiere tragen zur Ausbreitung des Waldes und zur Artenvielfalt bei. Auf Flächen, die von Hirschen intensiv genutzt werden, haben die Pflanzenarten in den beobachteten 50 bis 80 Jahren stark zugenommen.
Dagegen hat auf Weiden, die nur extensiv beäst wurden, die Artenvielfalt abgenommen. Die Studie über die `Bedeutung von Huftieren für den Lebensraum des Nationalparks bzw. zum Nahrungsangebot und zur Waldverjüngung´ zeigt, dass trotz angewachsener Hirschpopulation die Anzahl der Bäume pro 100m² stark zugenommen hat. Auf den aktuell benutzten Wildwechseln wurden pro Quadratmeter etwa 8 mal mehr Keimlinge gefunden als auf verlassenen Wechseln, und rund 30 mal mehr als außerhalb von Wildwechseln. Die Verjüngung und die Ausbreitung des Waldes scheinen also durch die Hirschdichte, wie sie sich seit dem Jagdverbot eingestellt hat, eher gefördert als behindert zu werden.
(Anmerkung: Auch im Schweizer Nationalpark fehlen Wölfe, Luchse und Bären als mögliche Beutegreifer.)

Problemfeld: Jagdfreie »Inseln«
Aus dem Kanton Genf und dem unbejagten Schweizer Nationalpark kennt man die temporäre Einwanderung von Wildtieren nach der Eröffnung der Jagdsaison in den angrenzenden Naturbereichen. Wenn in Frankreich Wildschweine bejagt werden, durchschwimmen die Tiere sogar die Rhone und flüchten ins jagdfreie Genf. Nach der Beendigung der Jagdzeit in Frankreich kann man natürlich auch die Rückwanderung feststellen.

Trotzdem kann es kurzfristig einen Tierbestand geben, der über der »carrying capacity« liegt, deshalb sind nicht nur ausreichend Wiesenflächen um die Wälder von großer Bedeutung, sondern auch der natürliche Schutz der notwendigen, begleitenden Verjüngungsmaßnahmen.

Natürlicher Schutz von Anpflanzungen
Da der Jagddruck und die damit verbundene Traumatisierung der tagaktiven Tiere in den jagdfreien Arealen nicht mehr vorhanden sein wird, kommt es durch die sicheren Waldrand- und Wiesenbereiche in den forstwirtschaftlichen Baumbeständen zu einem starken Rückgang der Verbissrate. Diese jagdtypischen Baumschäden werden auf Dauer sogar verschwinden. (Vgl.Reichholf, Josef, Interview, Spiegel, Heft 50/2000)
Die Wildtiere werden relativ schnell lernen, dass sie wieder unbehelligt, wie es ihrer natürlichen Lebensweise entspricht, außerhalb der Forste ihren Energiebedarf mit krautartigen Pflanzen decken können. Wenn die Populationsdichte für den Lebensraum (noch aus Jagdzeiten künstlich oder wegen temporärer Einwanderungen) zu hoch ist und die Umstellung der Rand- und Wiesenbereiche zu langsam abläuft, kann um junge Bäume ein Forstschutzzaun gezogen werden.

Anpflanzungen können auch geschützt werden durch unverwertbare ausgeschlagene und abgestorbene Bäume bzw. Baumteile, die als natürliche Hecken und Hindernisse um die neuen Anpflanzflächen errichtet werden. So wird nicht nur die Biomasse im Wald gelassen, sondern auch insektenfressenden Vögeln eine Nistmöglichkeit geboten. Diese natürliche Absperrung wird nicht nur die jungen Bäume vor direktem »Zugriff«, sondern alle Bäume (durch die Vogelpopulationen) auch vor starkem Insektenbefall bewahren. Da es sehr verbissresistente und beim Wild beliebte Baumarten gibt, kann auch eine so genannte »Patenpflanzung« in Baumbeständen erfolgen, d. h. sehr empfindliche Bäume werden zusammen mit robusteren Baumarten (z. B. Hainbuche und Ahornarten, vgl. Prien, Siegfried, Wildschäden im Wald, Parey Buchverlag 1997, S.17) angebaut.

Mit der Umsetzung des uns zur Verfügung stehenden Wissens sind viele Probleme schon im Vorfeld lösbar. Dies wurde auch von Dr. Eberhard Schneider (Göttingen, Vogelschutzkomitee) beim 2. Internationalen Symposium »Natur ohne Jagd« am 1.08.2003 in Berlin festgehalten: »Es ist nicht das fehlende Wissen um Biologie und Ökologie, sondern die fehlende Übernahme dessen, was die Biologen herausfanden und –finden bei ihren Studien.«

Natürliche Sukzession
Kahlschläge im Wald werden komplett vermieden und es wird nur noch partiell ausgeschlagen. Die Anpflanzung erfolgt so standortnatürlich wie möglich, d.h. mit großer Artenvielfalt. Außer Bäumen werden auch Büsche und krautige Pflanzen, unter Berücksichtigung der natürlichen Pflanzengemeinschaften, etabliert.
Diese Aktion sollte auch in den vorhandenen Monokulturen durchgeführt werden, lange bevor die »Plantage« völlig ausgereift ist. Sie ermöglicht eine sukzessive Veränderung der Alters- und Artenstrukturen im Wald und verbessert gleichzeitig die Resistenz gegenüber verschiedenen Schädlingen bzw. verhindert deren großflächige Ausbreitung.

Die Sukzession (Bildung von »Stockwerken«) auf bereits vorhandenen Kahlschlag- oder Sturmbruchflächen wird durch eine sinnvolle Einbringung natürlich vorkommender Arten unterstützt und zugelassen. Da auch hier unterschiedliche Altersstrukturen erwünscht sind, muss diese Aktion längere Zeit sinnvoll begleitet werden. So gibt es zukünftig keine Plantagenwälder mehr, sondern eine natürliche Mischung von alten und jungen sowie Nadel- und Laubbäumen. Dazwischen wachsen Büsche, an den Rändern Hecken; die Kräuter, Moose und Farne werden sich entsprechend der Licht- und Bodenverhältnisse etablieren.

Die Artenzahl in Flora und Fauna wird sich auf diese Weise wieder stabilisieren und sogar wieder erhöhen.

Biotopvernetzung
Diese Erhöhung der Artenzahl wird durch eine Vernetzung der Waldflächen günstig beeinflusst, da die Artenzahl immer von der Größe der Lebensräume abhängt. Lebensräume (= Biotope) wie Waldflächen, Wiesen und Felder werden durch Hecken und Bauminseln in der Feldflur miteinander verbunden. Feldgehölze bieten wildlebenden Tieren wie Feldhasen, Fasanen, Rebhühnern, Iltissen, Füchsen sowie vielen Vogelarten Schutz, Nahrung und Unterschlupf. Inselsituationen werden ausgeschlossen.

Die Verbindung der einzelnen Waldareale gibt den Tieren nicht nur eine schützende Deckung, sondern wird auch die Unfallgefahr (Straßenverkehr) mindern. Mit Wildübergängen und Schutzpflanzungen wird eine natürliche Ausbreitung und Wanderung aller Arten ermöglicht.

Natürliche Landwirtschaft
Im Zuge einer Agrarwende wird die Umstellung von der konventionellen hin zu einer natürlichen Wirtschaftsweise gefördert. Durch die schrittweise Abkehr von der »chemischen Keule« sowie von der Verseuchung von Böden und Grundwasser durch die Güllemengen aus der Massentierhaltung erholen sich die Böden und die Kleinstlebewesen im Erdreich. Feldblumen und Kräuter bieten Tieren Nahrung und Schutz und spenden dem Erdreich Schatten. Ausgelaugte Felder können sich wie früher in einem Brachejahr regenerieren. Auch für die Tiere ist die Brache ein wichtiger Lebensraum, in dem sie für dieses Jahr ungestört leben können. Die bäuerliche Landwirtschaft erholt sich durch die Abkehr von der Billig-Massenproduktion hin zur Produktion hochwertiger Lebensmittel.

Natürliche Regulation der Bestände
Durch die Beendigung der Bejagung durch Menschen kann eine natürliche Regulation der Tierpopulationen und die natürliche Nahrungskette wieder funktionieren. Die Konsumenten erster Ordnung (Pflanzenfresser), aber auch Mäuse und andere Kleinsäuger werden wieder normale Bestandsgrößen und -schwankungen aufweisen. Natürlich verendete Tiere werden problemlos von Beutegreifern (Füchse, Marder, Wiesel, Iltisse usw.) entsorgt, welche damit die Rolle der »Gesundheitspolizei des Waldes« wieder übernehmen können. Die gesundheitliche Gefahr für Wildtiere, die von Jägern angelegten »Luderplätzen« ausgeht (vgl. Untersuchungen zur Schweinepestverbreitung durch Jäger) besteht dann auch nicht mehr.

Die derzeit überhöhten Schalenwildbestände (Rehe, Hirsche, Damwild) werden sich auf Grund der Stressoren selbst regulieren: Die räumliche Individuenanzahl in einem bestimmten Areal beeinflusst den Hormonspiegel und damit die Fruchtbarkeit. Die vorhandenen natürlichen Widersacher (s.o.) tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei.
Im Übrigen hat die Ausbreitung der größeren Beutegreifer (z.B. Wolf und Luchs) aus dem Osten Europas längst begonnen (ein kleines Wolfsrudel lebt seit 1998 auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Bad Muskau).

Ungetrübter Naturgenuss
Durch die Beendigung der Bejagung verlieren Wildtiere Traumatisierung und unnatürliche Scheu und fassen wieder Zutrauen zum Menschen. Spaziergänger und Naturfreunde können Tiere in der freien Natur wieder erleben. Für Spaziergänger, Jogger, Reiter usw. und nicht zuletzt die Jäger selbst besteht keine Gefahr mehr, Opfer von Jagdunfällen zu werden.